#nofilter – Selbsterzählung 2.0 am Beispiel von Snapchat
Social-Media-Plattformen sind die primären Orte der Selbstdarstellung und –erzählung von Individuen im Netz. Dem „Erzähle dich selbst“-Imperativ (Thomä) folgend arbeiten User in Online-Erzählformaten nicht nur an einer digitalen Selbstdarstellung, sondern ist diese durch (zumeist) taxonomische Bewertung auch rückgekoppelt an die Selbstwahrnehmung der Subjekte und leistet einen Beitrag zu den jeweiligen Identitätskonstruktionen. Die Selbsterzählungen sind dabei technologisch durch die Interfaces der Sozialen Netzwerke maßgeblich präformiert. Mit vorstrukturierten Containern, chronologisch verlaufenden Timelines, Zeichenvorgaben oder Bildformaten generieren und strukturieren die Dispositive der Interfaces ihre je spezifische Erzählformen. Folgt man der These des Medienwissenschaftlers Marc Ries, der im Rückgriff auf die Erzähltheorie Gerard Genettes formuliert, in der angebrochenen Ära des Social-Media-Storytelling sei der narrative Akt selber ins Zentrum der Erzählung gerückt, die Diegese (die der Erzählung zugrunde liegenden Ereignisse) und der Diskurs der Erzählung (wie ist der Stoff erzählerisch geformt) verlören im Web 2.0 immer mehr an Bedeutung, wird klar, dass es eine primäre Qualität der Interfaces von Social-Media-Applikationen sein muss, effektiv sicherzustellen, dass überhaupt erzählt wird. Dieser paradigmatische (und für Erzählforscher zugegeben provokante) Shift im digitalen Erzählen, von Form und Inhalt zur Performance, lässt soziale Netzwerke dann vornehmlich als technologische Artefakte der Ermöglichung von erzählerischer Selbstermächtigung und dem Bereitstellen einer bisher nicht da gewesenen Öffentlichkeit erscheinen. Anschließend an diese These wären jene Bestandteile der Interfaces, die User zum Erzählen animieren, zu untersuchen (wie etwa die aufmerksamkeitsökonomische Gratifikation durch taxonomische Bewertungssysteme wie Likes und Favs oder das ephemere Entschwinden der Beiträge in Streams oder Feeds). Die Designer und Programmierer der Interfaces wären folglich als Meta-Storyteller zu bezeichnen, die jene Interfaces so konstruieren und die Erzählmatrix so gestalten, dass sie User ständig zum Erzählen anregen – egal was und egal wie. Beispielhaft soll nun anhand der Foto-Sharing-App Snapchat untersucht werden, auf welche Art und Weise die Interfaces der sozialen Netzwerke die narrativen Selbstaussagen der Subjekte formen und durch welche Interface-Mechanismen der Shift von Form und Inhalt der Erzählung zur Performance perpetuiert wird.
Karl Wolfgang Flender, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theorie und Praxis der Kommunikation an der Universität der Künste Berlin.