Überschreitungen am Kundenschalter: Elemente zu einer Vorgeschichte des Interface
In den 1940er Jahren werden die ersten Fahrkartenautomaten auf deutschen Bahnhöfen aufgestellt. Sie stehen in der Tradition der zahlreichen Verkaufsautomaten des 19. Jahrhunderts. Die Bezeichnung des »Automaten« ist traditionell damit konnotiert, den Menschen, seine Bewegungen und seine Kommunikation mechanisch nachzubilden. Offenbar ist der Selbstbedienungs-Apparat der Ort, an dem der Mensch angesichts der Maschine dennoch auf sich selbst zurückgeworfen ist. In meinem Vortrag möchte ich daher dem Interface als anthropologische Einrichtung nachgehen und dabei in dem Moment einsetzen, in dem die Abfertigung des Kunden an der Maschine noch keine Alternative ist. Der sogenannte Publikumsverkehr an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert konzentriert sich noch allein auf die Schalter der Post-, Bank- und Bahngebäude. Auch diese sind letztlich prototypische Schnittstellen, hält doch der Schalter internen Betriebs- und externen Kundenverkehr zunächst entschieden getrennt, um beide Bereiche dann – auf gezielte und hochgradig restriktive Weise – zur geschäftlichen Interaktion zu bringen. Kulturwissenschaftlich interessant ist, dass dieses Aufeinandertreffen qualitativ unterschiedlicher Sphären den Schalter zum Ort diverser Transgressionen macht: Betrug, Raubüberfälle, Missverständnisse, Drängeleien und Beleidigungen finden an der Kontaktstelle des Schalters den genuinen Ort ihrer Entstehung und Entfaltung. Als Interaktionsraum ist der Schalter zugleich potentielle Krisenstelle. Er wird zur Projektionsfläche für Klagen und zur Produktionsstätte des Beamtensubjekts als Beschwerdeobjekt. In meinem Vortrag möchte ich den Schalter als Dispositiv fortlaufender Vermittlung und Verhandlung von Kommunikations-, Verkehrs- und Verhaltensformen beschreiben. Die Verfahren der räumlichen Organisation eines kritischen Aufeinandertreffens zu untersuchen, wirft so zugleich Licht auf Funktionalitäten und Dysfunktionalitäten nachfolgender Mensch-Maschine-Schnittstellen; auf Aggressionen am Interface. Um diese in den Blick zu bekommen, sollte das Inter-Face jedoch zunächst einmal als Ort eines ursprünglichen face-to-face ernst genommen werden – als Schauplatz zwischenmenschlicher Begegnung und wortwörtlicher Auseinandersetzung.
Negativbeispiel aus einem Leitfaden zum höflichen Umgang mit Kunden der Deutschen Reichsbahn. (Richard Couvé: Vom Verkehr mit den Reisenden. Ein Ratgeber für Verkehrsbeamte. Berlin: 1926, S. 17)
Susanne Jany: 2005–2012 Studium der Kulturwissenschaft und deutschen Literatur in Berlin, Göteborg und London. Seit 2012 Doktorandin am Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin und Promotionsstipendiatin im PhD-Net »Das Wissen der Literatur«, Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin (Leiter: Prof. Dr. Joseph Vogl). Arbeitstitel der Dissertation: »›Prozessarchitekturen‹: Das Handbuch der Architektur (1880–1943) und die Organisation von Arbeits- und Betriebsabläufen mit architektonischen Mitteln« (Betreuer: Prof. Dr. Wolfgang Schäffner). 2013 Visiting Scholar an der Harvard University, Cambridge/MA, USA.