Das Diagramm als Medium und Denkwerkzeug ist en vogue in Kultur- und Medienwissenschaft, Semiotik, Philosophie und Kunstgeschichte. Als funktionale Darstellungen von Relationen, an denen Denkoperationen vollzogen werden, sind Diagramme von besonderem Interesse für epistemologische Untersuchungen von Visualisierungen. Ihr epistemisches Potential beschreibt Sybille Krämer als Operative Bildlichkeit und Frederik Stjernfelt legt ihm, in Referenz an Charles S. Peirce, ein Strong Concept of Iconicity zugrunde: Diagramme sind logische visuelle Systeme, die ein „Probehandeln“ (Roland Posner) mit ihren Signifikaten – Sachverhalte, physisch vorhandene oder intelligible Objekte – ermöglichen. Vor allem im Falle intelligibler Objekte nehmen Diagramme eine besondere Stellung ein. Sie visualisieren diese Gegenstände, die der Sinneswahrnehmung per definitionem entzogen sind. Mehr noch: Sie stellen sie in zeichnender Entwurfsgeste erst her. Das Diagrammatische wird hier zum Interface zwischen Denken und Anschauung: Diagramme können nicht sichtbare Relationen grafisch aufzeigen bzw. herstellen; die Manipulation dieser grafischen Übersetzung erlaubt ein gedankliches Experimentieren mit möglichen Konfigurationen des referenzierten Objekts. In diesem rekursiven hermeneutischen Prozess, einem Prozess zwischen Hand, Auge und Intellekt (Krämer), lassen sich neue Erkenntnisse aus dem Diagramm ableiten. Mit dieser spezifischen Referenzialität zu ihrem Objekt erscheinen Diagramme als seltsame mediale Artefakte, die gleichermaßen Repräsentation und Interface sein können. Mit Hinblick auf Überlegungen zum Interface – insbesondere verstanden als Benutzeroberfläche – sind ebenso die Funktionsbedingungen von Diagrammen interessant. Deren Operativität basiert maßgeblich auf ihrer topologischen Grundstruktur: Diagramme zeigen Relationen und Funktionen durch Anordnung und Verbindung ihrer Elemente auf einer zweidimensionalen Fläche. Bei Graphen wird dies besonders deutlich, etwas abstrakter in der Matrixfläche des Koordinatensystems. Kognitionswissenschaftliche Studien zur Diagrammatik heben das Potential dieser visuospatial characteristics (Peter Cheng et al.) für intuitive Operationen mit Diagrammen hervor. Ziel des Vortrags ist es, einen Beitrag zu geisteswissenschaftlichen Interfacetheorien zu leisten, der über eine „Ontologie der Schnittstelle“ hinausgeht. Durch die Diskussion der spezifischen Referenzialität von Diagrammen und ihrer topologischen Bedingung sollen Grundlagen für die Entwicklung von intuitiven Benutzeroberflächen theoretisch ausgelotet werden.
Daniel Irrgang ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Künste Berlin (UdK), wissenschaftlicher Leiter des Vilém Flusser Archivs und Forscher im Projekt Archäologie/Variantologie der Medien. 2011 schloss er mit einem Master of Arts mit medienwissenschaftlichem Schwerpunkt an der UdK ab und arbeitet nun an einem Dissertationsprojekt zu Diagrammatik als Cultura experimentalis bei Professor Dr. Siegfried Zielinski. Er ist Mitherausgeber der Dokumentation zum „Forum zur Genealogie des MedienDenkens“ und der Reihe „International Flusser Lectures“ sowie Mitbegründer (2006) der Kommunikationsagentur AFKM, die unterschiedlichste Medienformate entwickelt.