Die Metapher der „Verschmelzung“ von Mensch und Technik weckt Bilder von einem Prozess, der eine Ununterscheidbarkeit der Einzelteile herbeiführt, bei dem der menschliche Körper aber den Kürzeren zieht. Die Dystopien von Interfaces, die das Menschliche zerstören, in dem sie ihm zu nahe kommen, sind Legion. Der so erweiterte Mensch, der Cyborg, ist im Heideggerschen Sinne “kaputt”, denn er zwingt uns eine Beschäftigung mit den Dingen auf, die sich uns sonst entziehen. Warum ist das Ohr so wie es ist? Warum die Hand? Aber auch: Wie ändert sich ein Mensch, dessen Einzelteile ausgetauscht, erweitert, umgebaut werden? Der Cyborgismus offenbart die Probleme der historischen Dominanz des Menschen über die Dinge. Man könnte auch sagen, es gibt eine Krise zwischen Mensch und Objekt. Manch einer mag schon von objektorientierter Programmierung gehört haben und tatsächlich hat sich die aktuelle objektorientierte Philosophie bei ihr bedient. Ihr zufolge besteht die Welt weder nur aus den kleinsten Teilen, noch nur aus den Relationen zum Menschen. Die Welt besteht vielmehr aus Objekten, die unabhängig sind von ihrem weiteren Kontext und ihrer Einzelteile. Mit Objekten in diesem Sinne sind durchaus – hier mag man schaudern – auch Menschen gemeint. Ihnen wird der ontologische Sonderstatus entzogen. Sie werden Objekte unter Objekten. Aber Objekte sind nicht banal: In Harmans Objektorientierter Philosophie haben Objekte „Pole“: ein Interface nach außen und ein geheimnisvolles, unerschöpfliches Inneres, das „reale Objekt“. Der Cyborgismus erscheint wie eine Utopie aus diesem Geiste. Der Mensch als rätselhaftes Objekt auf einer Ebene mit anderen rätselhaften Objekten – verbunden über Schnittstellen, die zwischen den Objekten vermitteln. Nur diese Interfaces sind uns zugänglich, sie strukturieren die Wahrnehmung der realen Objekte. Interfaces dienen heute jedoch tatsächlich der Verschmelzung, der Aufhebung von innen und außen. Moderne user experience will nicht nur Hard- und Software ununterscheidbar machen – ihr Wunsch gilt der Verbergung eines jeglichen Innenlebens. Der Attraktivität der geschlossenen Oberfläche muss die Interfacekritik die Entbergung entgegensetzen: Am Bild des Cyborgs als „kaputtem“ Menschen zeigen sich Interfaces, die uns die Objekte der Welt vor Augen führen anstatt ihr Inneres zu leugnen.
Gabriel Yoran, geboren 1978 in Frankfurt am Main, ist Unternehmer und Autor. Er hat Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der UdK Berlin studiert und an der European Graduate School (EGS) bei Graham Harman über Spekulativen Realismus promoviert. Er ist Mitgründer der Medienplattform Steady, des mobilen Social Networks aka-aki und der Privacy-Softwarefirma Steganos. Er schreibt für Zeit Online, Übermedien und Krautreporter. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher "Aussprachehilfen" (2019) und "Klassik verstehen" (2020). Er lebt in Berlin.